FlussFuchs
Well-known member
Ich sitze in einer Straße, deren Namen ich nicht aussprechen kann. Hinter beschlagenen Scheiben steigen Dampfwolken auf, Kellner balancieren Teller durch den engen Gastraum, von den Tischen hallen Trinksprüche herüber.
Eine Gruppe Studierender lässt sich neben mir nieder. Eine junge Frau steht auf, zeigt mir Kung-Fu: erst anmutig, beinahe meditativ, dann zerschneiden ihre Tritte über meinem Kopf die Abendluft. Ich zucke zusammen, alle lachen, jemand drückt mir ein Bier in die Hand. Nett hier.
Schließlich winkt mich die Kellnerin zu sich, nimmt mich am Oberarm und führt mich zu einem freien Platz. Ich bestelle, wonach ich mich lange gesehnt habe: Mapo Tofu. Hier bei Ming Ting in der "argen" Version mit Schweinehirn. Wenig später zückt die Kellnerin ein Feuerzeug, entzündet den Kocher, stellt einen Topf darauf, in dem es langsam blubbert wie Magma.
Ich beuge mich über die tiefrote Soße mit den seidigen Tofuwürfeln. Aus der Oberfläche ragt der Ansatz eines Hirns: Comfort Food, das verschlungen werden will. Szechuanpfeffer betäubt die Zunge, ehe die Schärfe der Chilis einsetzt. Málà, nennen sie das hier („Má“ – betäubend, "Là" – scharf). Der Tofu ist zart, ebenso das Hirn: weich, fast süßlich, ein Kontrapunkt zur Soße, der auf der Zunge zerfließt. Schweiß perlt auf meiner Stirn. Willkommen in Chengdu.
Die Stadt, je nach Zählung bis zu 20 Millionen Einwohner, liegt in einem Becken, eingerahmt von Gebirgsketten, die bis zu 7.000 Meter in den Himmel ragen. Das Klima ist subtropisch, die Landschaft fruchtbar. Beiname: "Land des Überflusses". Kein Euphemismus, wie sich zeigt, als ich über einen Markt in Chengdu spaziere. Obst und Gemüse in allen Formen und Farben türmen sich neben Tofu, so groß wie Ziegelsteine, Karpfen schwimmen in Becken, getrocknetes Fleisch hängt von Holzbalken, und irgendwo kräht ein Hahn.
Eine Händlerin winkt mich heran, zeigt auf einen Strauch Szechuanpfeffer und deutet mir zu kosten. Ich breche gleich drei Beeren ab – "weil eh Überfluss". Sie lacht. Der Geschmack ist zunächst zitrisch, fast erfrischend, ehe die betäubende Wirkung wie ein Stromschlag einsetzt und den Gaumen minutenlang in elektrisierendes Kribbeln hüllt.
Ich lehne mich auf einem Bambusstuhl zurück und trinke einen Chrysanthemen-Tee im Renmin-Park. Der soll nach traditioneller chinesischer Medizin eine kühlende Wirkung haben. Entzückende Omas tanzen in Pavillons, Kinder hocken vor einem Teich und füttern Koikarpfen, Kettenraucher in Lederjacken spielen stoisch Mahjong, und Jugendliche üben sich in Karaoke. Die Leichtigkeit des Seins.
Mir wird bewusst, warum Chengdu zu den lebenswertesten Städten Chinas zählt. Es heißt: Die Regierung in Peking ist weit weg, an der Küste wird gearbeitet, und in Chengdu wird entspannt.
Die ursprüngliche Altstadt wurde im 20. Jahrhundert nahezu vollständig vernichtet. Kulturrevolution und Fortschrittsdrang hatten für alte Bausubstanz und Tempel wenig übrig. In den letzten Jahren wurde das historische Zentrum rekonstruiert. Häuser mit geschwungenen Dächern, Holzgiebeln und vergoldeten Drachen wirken wie ein Klischee aus der Vergangenheit.
Drinnen? Souvenirshops, Starbucks und Fastfood. Die doch nicht so alte Altstadt erfüllt ihre Funktion als Hochglanz-Fotokulisse. Teenager schlürfen bunte Plastikbecher mit Bubble Tea und inszenieren sich für TikTok.
Was ist echt, was ist alt oder neu? Das Empfinden für Authentizität wird in China auf die Probe gestellt. Wirklich alt sind Straßenzüge mit schäbigen Plattenbauten. Die Wände sind teils unverputzt, Wäsche hängt von den Leinen. Plakate mit Bauern und Arbeitern in martialischen Posen machen deutlich, wer hier das Sagen hat. Kameras an allen Ecken verfolgen jeden Schritt.
Und doch, in einem Stadtviertel, das auf den ersten Blick nicht einladend wirkt, werde ich eine Straße weiter von einem wohligen Geruch umarmt. Aus kleinen Garküchen dampft und zischt es, Teig wird virtuos in seidige Fäden zu Nudeln gezogen. Auch so ein Grundstein der Sichuan-Küche.
Dan Dan Mian etwa: lange, schlotzige Weizennudeln, vermengt mit Faschiertem, Sojasoße, Chilicrisp, Erdnüssen und Frühlingszwiebeln. Der Koch deutet mir, ich solle die Schüssel ordentlich durchmischen. Ich versuche es, scheitere aber an meiner Motorik. Vom Nebentisch kommt jemand herüber und nimmt mir die Stäbchen aus der Hand. Mit stakkatoartigen Bewegungen fährt er durch die Schüssel – alle Nuancen finden ihren Platz.
Oder Wan Tan: zarte, kunstvoll geformte Teigtaschen, fast transparent, gefüllt mit Garnelen oder Fleisch, gleiten in Schüsseln mit kaltem Chiliöl oder in eine kräftige Pilzsuppe. Ich sitze irgendwo in Chengdu und könnte dasselbe Gefühl auch in Bologna mit einer Schüssel Tortellini in Brodo empfinden. Teigtaschen als globale Kulturleistung, die uns diesseits und jenseits der Kontinente Glücksmomente bescheren.
Essen ist Kopfsache. Am letzten Nachmittag bin ich wieder bei Ming Ting. Die Kellnerin erkennt mich und klopft mir amikal auf die Schulter, als hätte sie gewusst, dass ich zurückkomme. Diesmal bestelle ich Kaninchenkopf, einen Snack, den ich bisher immer gemieden habe. In Chengdu so allgegenwärtig wie Tapas in San Sebastián. Der Kopf glänzt rot vom Chiliöl, die Augen starren mich an. Ich ziehe Plastikhandschuhe über, spalte den Schädel und löse das zarte Fleisch. Ein letztes Kribbeln bleibt auf meinen Lippen.
Vielleicht nähert man sich China genau so: über ungewohnte Gerichte, über das Teilen eines Tisches, über Momente, in denen dir jemand Stäbchen aus der Hand nimmt und zeigt: So geht das hier. Über Taubheit am Gaumen und Gesten, die keine Worte brauchen.
Chengdu ist eine Erfahrung, die scharf und sanft zugleich ist, laut und leise, modern und abgefuckt, grau und glänzend. Vor allem aber herzlich. Eine Herausforderung für alle Sinne, der ich mich wieder stellen werde.
Eine Gruppe Studierender lässt sich neben mir nieder. Eine junge Frau steht auf, zeigt mir Kung-Fu: erst anmutig, beinahe meditativ, dann zerschneiden ihre Tritte über meinem Kopf die Abendluft. Ich zucke zusammen, alle lachen, jemand drückt mir ein Bier in die Hand. Nett hier.
Schließlich winkt mich die Kellnerin zu sich, nimmt mich am Oberarm und führt mich zu einem freien Platz. Ich bestelle, wonach ich mich lange gesehnt habe: Mapo Tofu. Hier bei Ming Ting in der "argen" Version mit Schweinehirn. Wenig später zückt die Kellnerin ein Feuerzeug, entzündet den Kocher, stellt einen Topf darauf, in dem es langsam blubbert wie Magma.
Ich beuge mich über die tiefrote Soße mit den seidigen Tofuwürfeln. Aus der Oberfläche ragt der Ansatz eines Hirns: Comfort Food, das verschlungen werden will. Szechuanpfeffer betäubt die Zunge, ehe die Schärfe der Chilis einsetzt. Málà, nennen sie das hier („Má“ – betäubend, "Là" – scharf). Der Tofu ist zart, ebenso das Hirn: weich, fast süßlich, ein Kontrapunkt zur Soße, der auf der Zunge zerfließt. Schweiß perlt auf meiner Stirn. Willkommen in Chengdu.
Die Stadt, je nach Zählung bis zu 20 Millionen Einwohner, liegt in einem Becken, eingerahmt von Gebirgsketten, die bis zu 7.000 Meter in den Himmel ragen. Das Klima ist subtropisch, die Landschaft fruchtbar. Beiname: "Land des Überflusses". Kein Euphemismus, wie sich zeigt, als ich über einen Markt in Chengdu spaziere. Obst und Gemüse in allen Formen und Farben türmen sich neben Tofu, so groß wie Ziegelsteine, Karpfen schwimmen in Becken, getrocknetes Fleisch hängt von Holzbalken, und irgendwo kräht ein Hahn.
Eine Händlerin winkt mich heran, zeigt auf einen Strauch Szechuanpfeffer und deutet mir zu kosten. Ich breche gleich drei Beeren ab – "weil eh Überfluss". Sie lacht. Der Geschmack ist zunächst zitrisch, fast erfrischend, ehe die betäubende Wirkung wie ein Stromschlag einsetzt und den Gaumen minutenlang in elektrisierendes Kribbeln hüllt.
Ich lehne mich auf einem Bambusstuhl zurück und trinke einen Chrysanthemen-Tee im Renmin-Park. Der soll nach traditioneller chinesischer Medizin eine kühlende Wirkung haben. Entzückende Omas tanzen in Pavillons, Kinder hocken vor einem Teich und füttern Koikarpfen, Kettenraucher in Lederjacken spielen stoisch Mahjong, und Jugendliche üben sich in Karaoke. Die Leichtigkeit des Seins.
Mir wird bewusst, warum Chengdu zu den lebenswertesten Städten Chinas zählt. Es heißt: Die Regierung in Peking ist weit weg, an der Küste wird gearbeitet, und in Chengdu wird entspannt.
Die ursprüngliche Altstadt wurde im 20. Jahrhundert nahezu vollständig vernichtet. Kulturrevolution und Fortschrittsdrang hatten für alte Bausubstanz und Tempel wenig übrig. In den letzten Jahren wurde das historische Zentrum rekonstruiert. Häuser mit geschwungenen Dächern, Holzgiebeln und vergoldeten Drachen wirken wie ein Klischee aus der Vergangenheit.
Drinnen? Souvenirshops, Starbucks und Fastfood. Die doch nicht so alte Altstadt erfüllt ihre Funktion als Hochglanz-Fotokulisse. Teenager schlürfen bunte Plastikbecher mit Bubble Tea und inszenieren sich für TikTok.
Was ist echt, was ist alt oder neu? Das Empfinden für Authentizität wird in China auf die Probe gestellt. Wirklich alt sind Straßenzüge mit schäbigen Plattenbauten. Die Wände sind teils unverputzt, Wäsche hängt von den Leinen. Plakate mit Bauern und Arbeitern in martialischen Posen machen deutlich, wer hier das Sagen hat. Kameras an allen Ecken verfolgen jeden Schritt.
Und doch, in einem Stadtviertel, das auf den ersten Blick nicht einladend wirkt, werde ich eine Straße weiter von einem wohligen Geruch umarmt. Aus kleinen Garküchen dampft und zischt es, Teig wird virtuos in seidige Fäden zu Nudeln gezogen. Auch so ein Grundstein der Sichuan-Küche.
Dan Dan Mian etwa: lange, schlotzige Weizennudeln, vermengt mit Faschiertem, Sojasoße, Chilicrisp, Erdnüssen und Frühlingszwiebeln. Der Koch deutet mir, ich solle die Schüssel ordentlich durchmischen. Ich versuche es, scheitere aber an meiner Motorik. Vom Nebentisch kommt jemand herüber und nimmt mir die Stäbchen aus der Hand. Mit stakkatoartigen Bewegungen fährt er durch die Schüssel – alle Nuancen finden ihren Platz.
Oder Wan Tan: zarte, kunstvoll geformte Teigtaschen, fast transparent, gefüllt mit Garnelen oder Fleisch, gleiten in Schüsseln mit kaltem Chiliöl oder in eine kräftige Pilzsuppe. Ich sitze irgendwo in Chengdu und könnte dasselbe Gefühl auch in Bologna mit einer Schüssel Tortellini in Brodo empfinden. Teigtaschen als globale Kulturleistung, die uns diesseits und jenseits der Kontinente Glücksmomente bescheren.
Essen ist Kopfsache. Am letzten Nachmittag bin ich wieder bei Ming Ting. Die Kellnerin erkennt mich und klopft mir amikal auf die Schulter, als hätte sie gewusst, dass ich zurückkomme. Diesmal bestelle ich Kaninchenkopf, einen Snack, den ich bisher immer gemieden habe. In Chengdu so allgegenwärtig wie Tapas in San Sebastián. Der Kopf glänzt rot vom Chiliöl, die Augen starren mich an. Ich ziehe Plastikhandschuhe über, spalte den Schädel und löse das zarte Fleisch. Ein letztes Kribbeln bleibt auf meinen Lippen.
Vielleicht nähert man sich China genau so: über ungewohnte Gerichte, über das Teilen eines Tisches, über Momente, in denen dir jemand Stäbchen aus der Hand nimmt und zeigt: So geht das hier. Über Taubheit am Gaumen und Gesten, die keine Worte brauchen.
Chengdu ist eine Erfahrung, die scharf und sanft zugleich ist, laut und leise, modern und abgefuckt, grau und glänzend. Vor allem aber herzlich. Eine Herausforderung für alle Sinne, der ich mich wieder stellen werde.